Chorleiterin – ein Wunschberuf?
Ja, ich bin Chorleiterin, ich bin Kirchenmusikerin, ich bin auch Kantorin – letzteres im Moment in einer landeskirchlichen Anstellung. Aber das alles greift am Ende doch zu kurz. Denn zu allererst und unbedingt bin ich eine Liedbegeisterte. Ich liebe Lieder! Sie hüllen sich wie ein Mantel um viele Momente meines Lebens. Sie wärmen, sie trösten, sie locken … sie hüpfen in mir, tragen mich und bringen mich in Schwingungen, in Bewegung, in Resonanz … Und indem die Lieder etwas mit mir machen, mach ich etwas mit ihnen – mal fühle ich mich als eine Entdeckerin, wenn ich Zwiegespräche von Musik und Text gestalten darf. Oder wenn es mir gelingt, Musik und Raum in spürbare Beziehung zu setzen, wenn Übergänge von Musik in Stille Gestalt annehmen und etwas entsteht, was ich vorher vielleicht noch nicht kannte – dann bin ich Gestalterin und Entdeckerin zugleich. Dabei denke ich nicht an große Werke. Das kann mit einfachen Mitteln – vor allem mit Liedern – passieren. Im Gottesdienst gelingt dies zum Beispiel aber auch im gemeinschaftlichen Weben kleiner liturgischer Zeremonien. Das sind wunderbare schöpferisch-spirituelle Momente. Übergänge sind meine Leidenschaft.
Öfter bin ich auch Musik-Übersetzerin für Kinder – aber auch Erwachsene – und öffne das Feld der Sinne dem Feld der Sprache: Was stellst du dir vor, wenn du »Morgentau der Ewigkeit« singst? Mit solchen Fragen versuche ich, Musik in ihrer Ganzheitlichkeit zu reflektieren.
Als Lehrende darf ich Kirchenmusikstudierende, Berufseinsteiger/-innen, Teilnehmende an Fortbildungen, Pfarrer/-innen und andere Berufsgruppen der Kirche in der Ausbildung begleiten. Ich bin Kontaktperson, Vernetzende, Impulsgeberin, Mutmacherin und Botschafterin unserer kirchlichen Musikarbeit in zivilgesellschaftlichen Verbänden und Gremien, die in ganz anderen Lebenskontexten Musik machen.
Vor allem aber bin ich immer wieder aufs Neue eine Beschenkte, denn das, was ich tun darf, macht mir sehr viel Freude. Gerade auch mit jungen Menschen. Ich genieße die Übergänge zwischen Beruf und Berufung. Meine beruflichen Anker darin habe ich erst auf Umwegen entdeckt.
Was waren deine Ambitionen beim Berufseinstieg?
Als ich 1987 mein Abitur in der Tasche hatte, war das Kirchenmusikstudium eine kleine Tür, die sich mir öffnete. Ich bin eingetreten. Der Studienwunsch war zuerst ein Kompromiss. Ich war hin und hergerissen zwischen vielen Dingen, die ich machen wollte, und dabei etwas orientierungslos. Solles es etwas Instrumentales sein? Unbedingt wollte ich im Chor singen, Theater spielen, hatte Bühnenlust und liebte das Lesen und Werkeln. Ich wusste eher, was ich nicht machen wollte – beispielsweise das frühe Aufstehen, wie die Werksarbeiter in unserer Kleinstadt – als das, was ich aus meinen vielen Interessen zum Beruf auswählen sollte. Die Schulzeit hatte ich in der DDR durchlebt. Von vielen Dingen träumte ich. Es war ohne Jugendweihe und in einem System der Planwirtschaft aber nicht realistisch für meinen Berufsweg. Der Ausweg: ein Studium unter kirchlichem Dach. Mein damaliger Klavierlehrer, Hans-Martin Schreiber, in einer kleinen Außenstelle einer Landmusikschule und meine erster Orgellehrer, Kurt Grahl, bereiteten mich darauf vor. Wir haben viel geredet. Immer wieder über Lieder und Choräle. Dabei machte mir auch meine Mutter immer Mut, wenn sie hell durchs Treppenhaus sang.
So erlebte ich in die klassische »Inselsituation« einer kirchlichen Ausbildungsstätte in der DDR – staatlicherseits geduldet aber ohne Anerkennung des Studienabschlusses, an der damaligen Dresdener Kirchenmusikschule, die heute die Hochschule für Kirchenmusik Dresden ist.
Die Vorstellung, selbst pädagogisch zu arbeiten, lag noch in weiter Ferne. Ich hatte ja bis zum Studium noch nie vor einem Chor gestanden. Das ging dann alles sehr schnell. Und mitten im Studium – 1989 – wirbelte alles um mich herum und veränderte die Vorzeichen völlig.
Eigentlich habe ich erst nach dem Studium angefangen, meinem Beruf für mich so richtig zu entdecken: im ersten Praxisjahr nach dem Studium. Ich hatte schnell gemerkt, wie wichtig mir die Chor- und Singarbeit war und wie aufregend ich die Frage fand »Wie verstehen alle, was ich meine? Wie arbeiten alle hochmotiviert mit und lassen sich mit mir auf neue Klangentdeckungen ein?« oder »Wie gelingt es, dass nach 45 Minuten Kinderchorprobe alle erstaunt sind, wie schnell die Zeit vergangen ist?« – so hatte ich es selbst erlebt. Und so wollte ich es selbst machen! Gerade in der Singwochenarbeit und in der Projektarbeit habe ich ungemein viel von Kolleg/-innen gelernt. Ich erinnere mich an eine besondere Situation bei einer Singwoche mit dem ehemaligen Naumburger Domkantor Detlef Schöner: Die Kinder weigerten sich, die Probe zu beenden! Sie wollten unbedingt die neu angefangene Nummer eines neuen Musicals zu Ende singen und kennen lernen. Es war kein leichtes Stück – aber das hat sie nicht gestört! Das hat mich erstaunt. Und begeistert. So viel Leistungsbereitschaft und Motivation freiwillig, voller Lust, mit spielerischer Freude … Diese Energie wollte ich auch freisetzen. Und nach dem Praxisjahr war klar: Das mache ich beruflich.
Wann bist du mit deiner Arbeit glücklich?
Es gibt viele glückliche Gänsehautmomente. Besonders wenn Kinder sich mit Haut und Haar hineingeben ins Musizieren. Wenn Erwachsene das Gespräch auch über das Singen suchen. Wenn auszubildende Erzieher:innen nach einem Seminartag in der Auswertung schreiben: »Danke! Sie haben mir Mut gemacht (zum Singen)!« Wenn ehemalige Studierende immer wieder Rat suchen. Wenn Entdeckungen zu einem Ablauf, einer Überleitung oder einem liturgischen Baustein Gesprächsthema beim Kirchenkaffee werden. Ein besonderes inneres Glücksmoment für mich ist, wenn ich mich beim Dirigieren oder Anleiten selbst beobachte und spüre: Wie schön klingt das denn! Und das darf ich miterleben!
Auszug aus mit Herz und Mund, Interview mit Klaus-Martin Bresgott in der Hochschule für Kirchenmusik Dresden im Oktober 2024